Patientengeschichten
Seltene Immunerkrankung erklärt Schlaganfälle am Centrum für Chronische Immundefizienz
Seit ihrer Diagnose hat sie wieder Hoffnung
Berna Tuncer ist eine starke junge Frau. Bei einer Studie der Freiburger Uniklinik wurde sie gefragt, ob sie sich krank fühlt. „Ich kann atmen, laufen und sehen. Im Vergleich zu anderen bin ich viel gesünder. Und ich habe meinen Professor“, sagt sie. Vor zwei Jahren sah das anders aus. Berna hatte fünf Schlaganfälle im Alter von 19 bis 21 Jahren hinter sich und lag monatelang in Krankenhäusern und Rehakliniken. Sie hat nur noch geweint. Seither ist ihre rechte Körperhälfte teilweise taub und sie hat weniger Kraft. Ihre Feinmotorik funktioniert nicht mehr wie vorher. Beim Sprechen sucht sie ab und zu nach Worten und das Lernen bereitet ihr Schwierigkeiten.
Sie war gerade in der Reha, um sich von ihrem vierten Schlaganfall zu erholen, als der nächste passierte. Erstmals wurde sie in die Freiburger Uniklinik gebracht. Dort lernte sie Prof. Dr. Bodo Grimbacher, den Wissenschaftlichen Direktor des Centrums für Chronische Immundefizienz (CCI) kennen. „Seine Sätze begannen nicht mit „wir vermuten…“. Er hat ganz anders gesprochen und was er gesagt hat, hat zu mir gepasst“, sagt Berna. Wenige Tage später brachte ein Bluttest Gewissheit darüber, dass Berna an einer seltenen Immunerkrankung leidet, der ADA2-Defizienz, die für ihre Schlaganfälle verantwortlich ist. Ein erhöhter Entzündungswert in ihrem Blut war zwar seit ihrer Kindheit bekannt, doch bisher hatte niemand einen Zusammenhang zu den Schlaganfällen hergestellt.
„Man muss die verschiedenen Informationen zusammenführen, auswerten und mit möglichen Diagnosen abgleichen. Das ist alles andere als einfach, da von der ADA2-Defizienz weltweit nur etwa 100 Menschen betroffen sind“, sagt Prof. Dr. Bodo Grimbacher. Die richtige Diagnose führte zur richtigen Therapie, ein Mix aus Infusionen, Spritzen und Tabletten für ihr Immunsystem und gegen ihre Entzündungen. Eine große Erleichterung auch für ihre türkische Großfamilie. „Durch meine Krankheit haben wir uns noch mal ganz anders kennengelernt“, sagt Berna. Und ein bisschen ist ihr Arzt ein Teil davon geworden. Als es ihr im Urlaub in der Türkei schlecht ging, hat sie ihn nachts auf dem Handy angerufen. Er war auch gerade im Ausland. Mit einem weiteren Medikament ging es ihr zwei Tage später wieder gut.
Berna macht gerade eine Ausbildung zur Technischen Produktdesignerin in Heidelberg. Sie möchte eine Firma gründen und ein Produkt herausbringen. Was das sein soll, darf sie nicht verraten. Und sie möchte Menschen mit seltenen Erkrankungen helfen, denen es schlechter geht als ihr. „Ich hatte eine glückliche Kindheit, andere nicht“, sagt sie.
Berna Tuncer hat ihre Geschichte 2022 in einem Buch veröffentlicht.
Betreuung der ganzen Familie in der Kinder- und Erwachsenenambulanz des Centrums für Chronische Immundefizienz
Vorteil einer frühen Diagnose für die Kinder
Benjamin Köhler war von klein an viel krank und niemand wusste genau warum. Im Alter von sechs Jahren wurde er Diabetiker, mit 15 musste seine Milz entfernt werden, mit 35 lag er wegen einer Lungenentzündung mehrere Tage im künstlichen Koma und dann noch einmal mit 39 wegen einer Hirnhautentzündung, um nur einige Vorfälle zu nennen. Sein Lungenarzt riet ihm zur Abklärung am Centrum für Chronische Immundefizienz (CCI) des Universitätsklinikums Freiburg. Dort hatte Herr Professor Grimbacher einen Gendefekt im Verdacht, den seine Forschergruppe drei Jahre davor entdeckt hatte. „Das Krankheitsbild des Patienten passte wie eine Blaupause zur CTLA4-Defizienz“, sagt Herr Professor Grimbacher. Eine genetische Analyse bestätigte den Verdacht. Nach 40 Jahren konnte endlich die richtige Diagnose für den Sportwissenschaftler gestellt und eine passende Therapie mit einem Medikament in die Wege geleitet werden.
Einerseits war die Diagnose eine große Erleichterung – nicht nur für ihn, denn Benjamin Köhler hat vier Kinder. Andererseits war klar, die Krankheit wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent vererbt. Doch darum konnte er sich erst mal gar nicht kümmern, denn kaum war der Gendefekt gefunden, stand auch schon die nächste Diagnose fest: Krebs! Das bösartige Geschwür am Hals konnte zwar operativ entfernt werden, doch hatte im ganzen Körper gestreut. Eine Chemotherapie über ein halbes Jahr blieb erfolglos. Benjamin Köhler hatte nur noch eine einzige Chance: eine Stammzelltransplantation, bei der sein krankes Immunsystem durch das eines gesunden Spenders ersetzt wird. Der Clou: es bestand Hoffnung mit dieser Therapie beide Krankheiten, den Tumor und den Immundefekt, zu besiegen. Doch so ein Eingriff kann schwere Komplikationen haben und bis zum Tod führen. Der Familienvater hatte keine wirkliche Wahl, denn der Tumor war weit fortgeschritten. Er wollte leben, auch für seine Kinder.
Benjamin Köhler hatte Glück, denn es konnte schnell ein passender Spender gefunden werden. Wenig später ist er im Oktober 2019 erfolgreich transplantiert worden. Er ist geheilt. „Ich habe den Berg erklommen, aber es ist nicht zu Ende“, sagt Benjamin Köhler heute. Inzwischen hat die Familie ihre vier Kinder genetisch untersuchen lassen. Bei den drei Töchtern im Alter von fünf, neun und 16 Jahren wurde der Gendefekt ebenfalls gefunden, nur der fünfjährige Zwillingssohn ist gesund. Die betroffenen Kinder, die auch schon Symptome haben, werden am CCI mit einem Medikament behandelt und regelmäßig beobachtet. Es ist ein Abwägen: die Risiken einer heilenden Stammzelltransplantation möchte die Familie nur in Kauf nehmen, wenn sich der gesundheitliche Zustand der Kinder verschlechtern sollte. „Bei meinen Kindern ist es genau anders herum, als bei mir, wir kennen die Ursache und können reagieren. Und am CCI sind wir in besten Händen“, sagt Benjamin Köhler. Er blickt optimistisch in die Zukunft, denn er weiß, dass seine Familie zusammenhält. Das war immer seine größte Stütze.
Wie Detektive lösen Forscher*innen und Ärzt*innen Fälle seltener Erkrankungen am Centrum für Chronische Immundefizienz
Wenn eine Diagnose auf einmal eine ganze Familiengeschichte erklärt
Wenn das Immunsystem defekt ist, dann geht es nicht nur um eine Erkältung. Angeborene Immundefekte sind oft lebensbedrohlich und sie sind extrem selten. Deshalb suchen Menschen mit Immundefekten häufig jahrelang erfolglos in Arztpraxen und Kliniken nach der richtigen Diagnose. So wie Silke Braun aus Herford. Mehr als 40 Jahre lang konnte sich kein Arzt erklären, was genau mit ihr nicht stimmt. Sie litt immer wieder an schweren Durchfällen und langwierigen Infekten. Schließlich war die 1,73 Meter große Frau auf 45 kg abgemagert und musste über Infusionen ernährt werden. Als Nierenversagen und ein Magenkarzinom hinzukamen, war sie mit ihren Kräften beinahe am Ende. Ein Internist äußerte 2012 den Verdacht auf einen Immundefekt und überwies sie ans Centrum für Chronische Immundefizienz (CCI) am Universitätsklinikum Freiburg. Prof. Dr. Bodo Grimbacher machte sich an die detektivische Arbeit und setzte das Puzzle aus ihrem Krankheitsbild und ihrer Familiengeschichte, sowie seinem Wissen und seiner Erfahrung als Forscher und Arzt zusammen. Was macht Durchfall, das man nicht nachweisen kann? fragte er sich, denn andere Ärzt*innen hatten schon mehrere Darmspiegelungen durchgeführt, doch nie eine Entzündung gefunden. Drei Todesfälle in ihrer Familie machten ihn stutzig, die bisher nicht miteinander in Zusammenhang gebracht wurden. Vater, Bruder und Nichte waren früh mit 66, 24 und 15 Jahren gestorben. Er war sich sicher, dass es sich tatsächlich um einen Immundefekt handeln muss. Doch welchen genau?
2013 entdeckte seine Forschergruppe am CCI einen neuen Gendefekt in CTLA4, der für mehrere Fälle von schweren Fehlsteuerungen des Immunsystems verantwortlich war. Er passte zum Krankheitsbild von Silke Braun. Ein Gentest bestätigte den Verdacht. „Nach mehr als 40 Jahren Odyssee hatte ich endlich eine Diagnose“, sagt Silke Braun. Unter der Anleitung von Prof. Dr. Bodo Grimbacher wurden die bisherigen Medikamente abgesetzt und durch ein Medikament ersetzt, das ursprünglich für die Rheumatherapie entwickelt wurde und das defekte CTLA4 Molekül ersetzen sollte. Der Patientin ging es zu diesem Zeitpunkt sehr schlecht und die Wirkung solcher Medikamente setzt nicht unmittelbar ein. Wird das neue Medikament wirken? Eine qualvolle Zeit für Silke Braun und ihr Ärzteteam. Zwölf Wochen später kam der Umschwung und ihr Gesundheitszustand besserte sich stetig. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie ihre Krankheit im Griff. „Ohne die genetische Diagnose, wäre so eine maßgeschneiderte Therapie nicht möglich gewesen“, sagt Prof. Dr. Bodo Grimbacher.
Doch Silke Braun musste weiter kämpfen, denn das Magenkarzinom kam zweimal wieder, so dass sie 2016 ihren Magen entfernen lassen musste. Aber auch davon hat sie sich erholt und seit letztem Jahr geht es ihr wieder gut. Einmal im Jahr fährt sie zur Kontrolle die 600 km von Herford nach Freiburg ans CCI. „Herr Professor Grimbacher ist mein Telefonjoker, ich kann ihn immer auf dem Handy erreichen, das hat mir schon oft sehr geholfen“, sagt sie.
Die Detektivarbeit der Forscher*innen am CCI hat auch Licht ins Dunkle von Silke Brauns Familiengeschichte gebracht. Heute gibt es eine plausible Erklärung für die drei frühen Todesfälle in ihrer Familie, auch wenn die im Nachhinein nicht mehr gelöst werden können. Ihr zweiter Bruder und ihre Schwester wurden inzwischen getestet und der CTLA4 Gendefekt auch bei ihnen gefunden. Sie haben ihre eigenen Krankheitsgeschichten. Beim zweiten Bruder mit Happy End. Er schwebte mit 50 Jahren in Lebensgefahr, doch sein Leben konnte am Universitätsklinikum Freiburg von Prof. Dr. Jürgen Finke mit einer Stammzelltransplantation von einem passenden Spender gerettet werden und er ist heute von dem Gendefekt geheilt.